Eine "zersplitterte Welt" schlafwandelt in den Dritten Weltkrieg

18.01.2023
Die selbs­t­er­nann­ten "Eli­ten" von Da­vos ha­ben Angst. So ei­ne Angst. Auf dem Welt­wirt­schafts­fo­rum in die­ser Wo­che hat der Vor­den­ker Klaus Schwab - in sei­ner ty­pi­schen Ja­mes-Bond-Bö­se­wicht-Ma­nier - im­mer wie­der von ei­nem ka­te­go­ri­schen Im­pe­ra­tiv ge­spro­chen: Wir brau­chen "Zu­sam­men­ar­beit in ei­ner frag­men­tier­ten Welt".

Wäh­rend sei­ne Dia­gno­se der "kri­ti­schen Frag­men­tie­rung", in der die Welt der­zeit steckt, vor­her­seh­bar düs­ter aus­fällt, be­haup­tet Herr Schwab, dass "der Geist von Da­vos po­si­tiv" sei und wir am En­de al­le glück­lich in ei­ner "grü­nen, nach­hal­ti­gen Wirt­schaft" le­ben könn­ten.

Worin Da­vos in die­ser Wo­che wie­der gut war, war, die öf­fent­li­che Mei­nung mit neu­en Man­tras zu über­schüt­ten. Es gibt "Das neue Sys­tem", das in An­be­tracht des kläg­li­chen Schei­terns des viel be­schwo­re­nen "Gre­at Re­set" nun wie ei­ne über­stürz­te Ak­tua­li­sie­rung des ak­tu­el­len - au­ßer Fas­sung ge­ra­te­nen - Be­triebs­sys­tems aus­sieht.

Da­vos braucht neue Hard­wa­re, neue Pro­gram­mier­kennt­nis­se, so­gar einen neu­en Vi­rus. Doch im Mo­ment ist al­les, was zur Ver­fü­gung steht, ei­ne "Po­ly­kri­se": oder, in Da­vos-Sprech, ei­ne "An­häu­fung von mit­ein­an­der ver­bun­de­nen glo­ba­len Ri­si­ken mit sich ge­gen­sei­tig ver­stär­ken­den Aus­wir­kun­gen".

Im Klar­text: ein per­fek­ter Sturm.

Un­er­träg­li­che Lang­wei­ler von der "Tei­le und herr­sche"-In­sel in Nord­eu­ro­pa ha­ben ge­ra­de her­aus­ge­fun­den, dass die "Geo­po­li­tik" lei­der nie wirk­lich in den kit­schi­gen "En­de der Ge­schich­te"-Tun­nel vor­ge­drun­gen ist: Zu ih­rer großen Ver­wun­de­rung kon­zen­triert sie sich jetzt - wie­der - auf das Kern­land, so wie sie es für den größ­ten Teil der auf­ge­zeich­ne­ten Ge­schich­te ge­tan hat.

Sie be­schwe­ren sich über die "be­droh­li­che" Geo­po­li­tik, was ein Co­de für Russ­land-Chi­na ist, mit dem Iran als An­hang.

Aber das Sah­ne­häub­chen auf dem al­pi­nen Ku­chen ist die Ar­ro­ganz/Dumm­heit, mit der sie ih­re Spiel­chen of­fen­le­gen: Die Ci­ty of Lon­don und ih­re Va­sal­len sind wü­tend, weil die "Welt, die Da­vos ge­schaf­fen hat", schnell zu­sam­men­bricht.

Da­vos hat kei­ne Welt "er­schaf­fen" au­ßer sein ei­ge­nes Si­mu­la­krum.

Da­vos hat nie et­was rich­tig ge­macht, denn die­se "Eli­ten" wa­ren im­mer da­mit be­schäf­tigt, das Im­pe­ri­um des Cha­os und sei­ne töd­li­chen "Aben­teu­er" im glo­ba­len Sü­den zu prei­sen.

Da­vos hat nicht nur al­le großen Wirt­schafts­kri­sen der letz­ten Zeit nicht vor­aus­ge­se­hen, son­dern vor al­lem den der­zei­ti­gen "per­fek­ten Sturm", der mit der vom Neo­li­be­ra­lis­mus aus­ge­lös­ten De­in­dus­tria­li­sie­rung des kol­lek­ti­ven Wes­tens zu­sam­men­hängt.

Und na­tür­lich ist man in Da­vos ah­nungs­los, was den wirk­li­chen Re­set in Rich­tung Mul­ti­po­la­ri­tät an­geht.

Selbs­t­er­nann­te Mei­nungs­füh­rer sind da­mit be­schäf­tigt, "wie­der­zuent­de­cken", dass Tho­mas Manns Der Zau­ber­berg vor fast ei­nem Jahr­hun­dert in Da­vos spiel­te - "vor dem Hin­ter­grund ei­ner töd­li­chen Krank­heit und ei­nes be­vor­ste­hen­den Welt­kriegs".

Nun, heut­zu­ta­ge ist die "Krank­heit", voll­stän­dig als Bio­waf­fe ein­ge­setzt, nicht wirk­lich per se töd­lich. Und der "be­vor­ste­hen­de Welt­krieg" wird in der Tat ak­tiv von ei­ner Ka­ba­le US-ame­ri­ka­ni­scher Straus­sia­ner, neo-cons und neo­li­be­ral-cons ge­för­dert: ein nicht ge­wähl­ter, nicht re­chen­schafts­pflich­ti­ger, über­par­tei­li­cher Tiefer Staat, der nicht ein­mal ei­ner Ideo­lo­gie un­ter­liegt. Der hun­dert­jäh­ri­ge Kriegs­ver­bre­cher Hen­ry Kis­sin­ger ka­piert es im­mer noch nicht.

Auf ei­ner Po­di­ums­dis­kus­si­on in Da­vos zum The­ma De-Glo­ba­li­sie­rung wur­den vie­le Un­ge­reimt­hei­ten ge­äu­ßert, aber der un­ga­ri­sche Au­ßen­mi­nis­ter Pe­ter Szi­jjar­to sorg­te zu­min­dest für ei­ne Por­ti­on Rea­li­tät.

Was Chinas Vi­ze­pre­mier Liu He be­trifft, so war er mit sei­nen um­fas­sen­den Kennt­nis­sen in den Be­rei­chen Fi­nan­zen, Wis­sen­schaft und Tech­no­lo­gie zu­min­dest sehr hilf­reich, als er die fünf wich­tigs­ten Leit­li­ni­en Pe­kings für die ab­seh­ba­re Zu­kunft fest­leg­te - jen­seits der ge­wöhn­li­chen im­pe­ria­len Si­no­pho­bie.

Chi­na wird sich dar­auf kon­zen­trie­ren, die Bin­nen­nach­fra­ge zu stei­gern, die In­dus­trie- und Lie­fer­ket­ten "flüs­sig" zu hal­ten, ei­ne "ge­sun­de Ent­wick­lung des Pri­vat­sek­tors" an­zu­stre­ben, die Re­form der staat­li­chen Un­ter­neh­men zu ver­tie­fen und "at­trak­ti­ve aus­län­di­sche In­ves­ti­tio­nen" an­zu­stre­ben.

Rus­si­scher Wi­der­stand, ame­ri­ka­ni­scher Ab­grund

Em­ma­nu­el Todd war nicht in Da­vos. Aber es war der fran­zö­si­sche An­thro­po­lo­ge, His­to­ri­ker, De­mo­graf und geo­po­li­ti­sche Ana­lyst, der in den letz­ten Ta­gen mit ei­nem fas­zi­nie­ren­den an­thro­po­lo­gi­schen Ob­jekt, ei­nem rea­li­täts­na­hen In­ter­view, im ge­sam­ten kol­lek­ti­ven Wes­ten für Auf­re­gung sorg­te.

Todd sprach mit Le Fi­ga­ro - der be­vor­zug­ten Zei­tung des fran­zö­si­schen Esta­blis­h­ments und der Haute Bour­geoi­sie. Das In­ter­view wur­de am ver­gan­ge­nen Frei­tag auf Sei­te 22 ver­öf­fent­licht, ein­ge­bet­tet zwi­schen den sprich­wört­li­chen rus­so­pho­ben Ti­ra­den und mit ei­ner äu­ßerst kur­z­en Er­wäh­nung am un­te­ren Rand der Ti­tel­sei­te. Die Leu­te muss­ten al­so wirk­lich hart ar­bei­ten, sie zu fin­den.

Todd scherz­te, dass er in Frank­reich den - ab­sur­den - Ruf ei­nes "re­bel­li­schen Zer­stö­rers" hat, wäh­rend er in Ja­pan re­spek­tiert wird, in den Main­stream-Me­di­en ver­tre­ten ist und sei­ne Bü­cher mit großem Er­folg ver­öf­fent­licht wer­den, dar­un­ter das neues­te (über 100.000 ver­kauf­te Ex­em­pla­re): "Der Drit­te Welt­krieg hat be­reits be­gon­nen".

Be­zeich­nen­der­wei­se gibt es die­sen ja­pa­ni­schen Best­sel­ler nicht in fran­zö­si­scher Spra­che, wenn man be­denkt, dass die ge­sam­te Pa­ri­ser Ver­lags­bran­che hin­sicht­lich der Ukrai­ne auf EU/NA­TO-Li­nie ist.

Die Tat­sa­che, dass Todd in ei­ni­gen Punk­ten rich­tig liegt, ist ein klei­nes Wun­der in der ge­gen­wär­ti­gen, ab­grund­tief kurz­sich­ti­gen in­tel­lek­tu­el­len Land­schaft Eu­ro­pas (es gibt noch an­de­re Ana­lys­ten, vor al­lem in Ita­li­en und Deutsch­land, aber sie ha­ben viel we­ni­ger Ge­wicht als Todd).

Hier al­so Todds kom­pak­te Grea­test Hits.

- Ein neu­er Welt­krieg ist aus­ge­bro­chen: Durch den "Wech­sel von ei­nem be­grenz­ten Ter­ri­to­ri­al­krieg zu ei­nem glo­ba­len wirt­schaft­li­chen Kon­flikt zwi­schen dem kol­lek­ti­ven Wes­ten auf der einen Sei­te und Russ­land, das mit Chi­na ver­bun­den ist, auf der an­de­ren Sei­te, wur­de dies zu ei­nem Welt­krieg".

- Der Kreml, so Todd, ha­be sich ge­irrt, weil er da­mit rech­ne­te, dass ei­ne zer­setz­te Ge­sell­schaft in der Ukrai­ne so­fort zu­sam­men­bre­chen wür­de. Na­tür­lich geht er nicht im De­tail dar­auf ein, wie die Ukrai­ne von der NA­TO-Mi­li­täral­li­anz bis zum Äu­ßers­ten be­waff­net wor­den ist.

- Todd trifft den Na­gel auf den Kopf, wenn er be­tont, dass Deutsch­land und Frank­reich zu un­be­deu­ten­den Part­nern in der NA­TO ge­wor­den wa­ren und nicht wuss­ten, was in der Ukrai­ne mi­li­tä­risch ge­plant war: "Sie wuss­ten nicht, dass die Ame­ri­ka­ner, Bri­ten und Po­len der Ukrai­ne einen län­ge­ren Krieg er­lau­ben wür­den. Die grund­le­gen­de Ach­se der NA­TO ist jetzt Wa­shing­ton-Lon­don-War­schau-Kiew".

- Todds Haupt­aus­sa­ge ist ein Kil­ler: "Der Wi­der­stand der rus­si­schen Wirt­schaft führt das im­pe­ria­le ame­ri­ka­ni­sche Sys­tem an den Ab­grund. Nie­mand hat­te vor­aus­ge­se­hen, dass die rus­si­sche Wirt­schaft der 'Wirt­schafts­macht' der NA­TO die Stirn bie­ten wür­de".

- In­fol­ge­des­sen "könn­te die wäh­rungs- und fi­nanz­po­li­ti­sche Kon­trol­le der USA über die Welt zu­sam­men­bre­chen und da­mit auch die Mög­lich­keit für die USA, ihr enor­mes Han­dels­de­fi­zit um­sonst zu fi­nan­zie­ren".

- Und des­halb "be­fin­den wir uns in ei­nem end­lo­sen Krieg, in ei­ner Aus­ein­an­der­set­zung, de­ren Er­geb­nis der Zu­sam­men­bruch des einen oder des an­de­ren ist".

- Was Chi­na be­trifft, so könn­te Todd wie ei­ne kampf­lus­ti­ge­re Ver­si­on von Liu He in Da­vos klin­gen: "Das ist das grund­le­gen­de Di­lem­ma der ame­ri­ka­ni­schen Wirt­schaft: Sie kann der chi­ne­si­schen Kon­kur­renz nicht stand­hal­ten, oh­ne qua­li­fi­zier­te chi­ne­si­sche Ar­beits­kräf­te zu im­por­tie­ren."

- Was die rus­si­sche Wirt­schaft be­trifft, so "ak­zep­tiert sie die Re­geln des Mark­tes, aber mit ei­ner wich­ti­gen Rol­le für den Staat, und sie be­hält die Fle­xi­bi­li­tät der Bil­dung von In­ge­nieu­ren, die in­dus­tri­el­le und mi­li­tä­ri­sche An­pas­sun­gen er­mög­li­chen".

- Und da­mit sind wir wie­der bei der Glo­ba­li­sie­rung an­ge­langt, und zwar auf ei­ne Art und Wei­se, die die Run­den Ti­sche in Da­vos nicht zu ver­ste­hen ver­moch­ten: "Wir ha­ben einen so großen Teil un­se­rer in­dus­tri­el­len Ak­ti­vi­tä­ten ver­la­gert, dass wir nicht wis­sen, ob un­se­re Kriegs­pro­duk­ti­on auf­recht­er­hal­ten wer­den kann".

- In ei­ner et­was ge­lehr­te­ren In­ter­pre­ta­ti­on des "Kamp­fes der Kul­tu­ren"-Trug­schlus­ses be­vor­zugt Todd Soft­power und kommt zu ei­ner ver­blüf­fen­den Schluss­fol­ge­rung: "Auf 75 Pro­zent des Pla­ne­ten war die Or­ga­ni­sa­ti­on der El­tern­schaft pa­tri­li­ne­ar, und des­halb kön­nen wir ein star­kes Ver­ständ­nis für die rus­si­sche Po­si­ti­on er­ken­nen. Für den kol­lek­ti­ven Nicht-Wes­ten ver­tritt Russ­land einen be­ru­hi­gen­den mo­ra­li­schen Kon­ser­va­tis­mus".

- Mos­kau ist es al­so ge­lun­gen, "sich als Ar­che­typ ei­ner Groß­macht zu po­si­tio­nie­ren, die nicht nur "an­ti­ko­lo­nia­lis­tisch" ist, son­dern auch pa­tri­li­ne­ar und kon­ser­va­tiv in Be­zug auf die tra­di­tio­nel­len Sit­ten".

Auf der Grund­la­ge der obi­gen Aus­füh­run­gen räumt Todd mit dem von den EU/NA­TO-"Eli­ten" - auch in Da­vos - ver­brei­te­ten My­thos auf, dass Russ­land "iso­liert" sei, und be­tont, wie die Ab­stim­mun­gen in der UNO und die all­ge­mei­ne Stim­mung im glo­ba­len Sü­den den Krieg cha­rak­te­ri­sie­ren, "der von den Main­stream-Me­di­en als Kon­flikt um po­li­ti­sche Wer­te be­schrie­ben wird, in Wirk­lich­keit aber auf ei­ner tiefe­ren Ebe­ne ein Kon­flikt um an­thro­po­lo­gi­sche Wer­te ist".

Zwi­schen Licht und Dun­kel­heit

Könn­te es sein, dass Russ­land - ne­ben den ech­ten Vier, wie ich sie de­fi­niert ha­be (mit Chi­na, In­di­en und Iran) - in der an­thro­po­lo­gi­schen Aus­ein­an­der­set­zung die Ober­hand ge­winnt?

Die ech­te Quad hat al­les, was es braucht, um in ei­ner "zer­split­ter­ten Welt" zu ei­nem neu­en kul­tu­r­über­grei­fen­den Brenn­punkt der Hoff­nung auf­zu­blü­hen.

Mi­schen Sie das kon­fu­zia­ni­sche Chi­na (nicht-dua­lis­tisch, kei­ne tran­szen­den­te Gott­heit, son­dern das Tao, das al­les durch­strömt) mit Russ­land (or­tho­do­xes Chris­ten­tum, Ver­eh­rung der gött­li­chen So­phia), dem po­ly­theis­ti­schen In­di­en (Rad der Wie­der­ge­burt, Ge­setz des Kar­ma) und dem schi­iti­schen Iran (dem Is­lam, dem der Zo­roast­ris­mus vor­aus ging, der ewi­ge kos­mi­sche Kampf zwi­schen Licht und Dun­kel­heit).

Die­se Ein­heit in der Viel­falt ist si­cher­lich an­spre­chen­der und er­he­ben­der als die Ach­se des ewi­gen Krie­ges.

Wird die Welt dar­aus ler­nen? Oder, um He­gel zu zi­tie­ren - "was wir aus der Ge­schich­te ler­nen, ist, dass nie­mand aus der Ge­schich­te lernt" - sind wir hoff­nungs­los dem Un­ter­gang ge­weiht?

Pe­pe Es­co­bar ist ein er­fah­re­ner Jour­na­list, Au­tor und un­ab­hän­gi­ger geo­po­li­ti­scher Ana­lyst mit Schwer­punkt Eu­ra­si­en.
Unautorisierte Übersetzung
Thelonius Kort
18.01.2023
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